Einblick //Bildung und Kultur für alle Bevölkerungsgruppen
Sein Vermögen vergrößerte er durch erfolgreiche Entwicklungen im Bereich der Teer- bzw. Anilinfarben. 1873 brachte er sein eigenes Unternehmen in die Badischen Anilin- und Soda-Fabriken (BASF) ein, deren Verkaufsabteilung er über mehrere Jahre von Stuttgart aus leitete. Die Bindung seines Unternehmens mit der BASF löste er 1889 wieder auf und gründete in Stuttgart eine eigene Fabrik. Siegle war zudem ein angesehener Politiker und als Abgeordneter im Deutschen Reichstag in Berlin. Darüber hinaus engagierte er sich für soziale und kulturelle Projekte.
Nicht nur den Wohlfahrtseinrichtungen seiner eigenen Unternehmen wendete Gustav Siegle große Aufmerksamkeit und materielle Unterstützung zu. In Stuttgart stiftete er 1888 beispielsweise 105.000 Mark zur Speisung armer Schüler, nach 1890 stellte er der Stadt Stuttgart 50.000 Mark zur Verfügung, um mittelständischen Gewerbetreibenden (vor allem Weingärtnern) günstige Kredite zu gewähren. 1893 finanzierte er den Bau des ersten Krankenhauses in Feuerbach. Nachdem Gustav Siegle 1905 gestorben war, gründete seine Witwe Julie 1907 gemeinsam mit ihren Töchtern und Schwiegersöhnen die Gustav-Siegle-Stiftung, deren Ziel es war, ohne Unterscheidung von religiösen und politischen Richtungen der Volksbildung zu dienen. Großzügig förderte die Stiftung den Bau des Hauses am Leonhardsplatz. Am 6. Oktober 1912 wurde das von dem Architekten Theodor Fischer (1862–1938) entworfene Gustav-Siegle-Haus gewissermaßen auf geweihtem Boden eröffnet. Beim Ausschachten der Baugrube war man auf menschliche Gebeine gestoßen, die von dem erst im Jahre 1805 aufgelösten St. Leonhardsfriedhof herrührten. Die Idee, das Gustav-Siegle-Haus solle ein Ort der Kulturvermittlung für alle Bürgerinnen und Bürger sein, gewann rasch an Fahrt: Große Dichter und Denker verbreiteten in den Sälen des Hauses ihre Gedanken. Gerhart Hauptmann (1862–1946), der bedeutendste Vertreter des Naturalismus in der deutschen Literatur, las hier ebenso aus seinen Schriften, wie Rudolf Steiner (1861–1925), der Begründer der Anthroposophie.
Die Geschichte der Stuttgarter Philharmoniker ist eng mit dem Gustav-Siegle-Haus verknüpft. Am 7. September 1924 fand hier das „I. Werbe-Konzert“ des gerade einmal ein paar Wochen alten Orchesters statt. Zum Sitz des Orchesters wurde das Haus aber erst nach dem Krieg. 1944 war das Gustav-Siegle-Haus (wie beinahe 70% der Stuttgarter Innenstadt) bei Luftangriffen stark zerstört worden. Es war ein Glücksfall, dass der Stuttgarter Gemeinderat, als im März 1953 der Wiederaufbau des Hauses beschlossen worden war, den 69-jährigen Architekten Martin Elsässer (1884–1957) für diese Arbeit gewinnen konnte. Elsässer hatte bei Theodor Fischer studiert, und kannte das Gustav-Siegle-Haus bestens, da er zu gleicher Zeit, als sein Lehrer am Leonhardsplatz arbeitete, mit dem Bau der neuen Gaisburger Kirche beschäftigt war.
Gleich nach der Wiedereröffnung des Gustav-Siegle-Hauses im Jahre 1954 gaben die Philharmoniker ein festliches Eröffnungskonzert. Dem Ideal der Siegle-Stiftung entspricht es in besonderer Weise, dass die Stuttgarter Philharmoniker schon seit Mitte der fünfziger Jahre regelmäßig im Gustav-Siegle-Haus Konzerte veranstalten, die speziell für Kinder und Familien und für Jugendliche konzipiert werden. Zum 70. Geburtstag des Orchesters im Jahre 1994 wurde den Stuttgarter Philharmonikern der renovierte große Saal des Hauses dauerhaft für Proben und kleinere Veranstaltungen übergeben. Seither ist das Gustav-Siegle-Haus die Heimstätte der Stuttgarter Philharmoniker.
Vor etwas mehr als fünf Jahren haben die Stuttgarter Philharmoniker Zuwachs bekommen: Im Dezember 2006 lud erstmals der BIX Jazzclub in den Anbau des Gustav-Siegle-Hauses ein und bereichert seither das Angebot um hochkarätige Veranstaltungen für alle Freunde der Jazzszene. Am 6. März 2007 eröffnete schließlich der „Kunstbezirk“, eine nicht kommerzielle Galerie für Kunst aus der Region Stuttgart, am Leonhardsplatz seine Pforten.